Seit Stunden versuche ich diesen Blogeintrag zu schreiben.
In Worte zu fassen, was ich im vergangenen Monat erlebt habe. Aber es fällt mir
schwer. Einen Monat 14 km von der Zivilisation entfernt ohne Strom, ohne
Fliessendwasser. Nichts. Rundum Dschungel, mitten in einer riesigen Familie.
Eine Familie, die sich von ihrem selber angepflanzten Reis ernährt. Eine
Familie, die in unseren Augen als äusserst arm bezeichnet würde, aber auf eine
Art und Weise unvorstellbar reich ist. Eine Gemeinschaft, wo jeder das leistet
was er schon oder noch kann. Menschen, die sich gegenseitig helfen,
unterstützen und eine überwältigende Toleranz aufweisen.
Das Leben dort ist so einfach, so naturverbunden, so
kreativ, so hart, so lehrreich, so faszinierend und so wunderschön. Es war eine
überwältigende Erfahrung, ihren Alltag mitzuerleben, die madagassischen
Handwerke zu erwerben, die Menschen kennenzulernen und ihre Handhabungen zu
verstehen. Es hat mich so berührt, dass ich gar nicht weiss, wie ich dir das erzählen
kann, dass du verstehst, was es mit mir gemacht hat. Langsam beginne ich
Madagaskar mit meinen eigenen Augen zu sehen und vieles wird mir klar oder
bewusst dabei. Ich habe Verständnis für Dinge, die ich in der Schweiz niemals
akzeptieren würde. Ich bin voller Bewunderung für die dort Sesshaften und
unendlich dankbar dafür, dass ich, auch wenn nur für eine kurze Zeit, einen
Teil davon sein durfte. Ich hatte so viel Zeit, diese so unterschiedlichen
Welten miteinander zu vergleichen. Hatte so viel über meine Denkweise, meine
Handhabungen sowie meine Macken nachgedacht. Mir wurde bewusst, wie oft ich
mich in meinem Alltag über kleine Dinge, andere Menschen ärgere, wie oft ich
mich selber in Stress versetze obwohl es überhaupt nicht nötig wäre. Diese
Menschen in Maromitsinjo, wie der Ort dort heisst, sind Geduld, Toleranz und
Fleiss in Person. Wenn ich nur einen kleinen Teil von ihrer Lebensphilosophie
in meinen Schweizeralltag einbringen kann, bin ich überglücklich. Aber ich
weiss schon jetzt, dass es mir schwer fallen wird und ich immer wieder in meine
alten Muster zurückfallen werde. (wag es ja nicht, mir das dann unter die Nase
zu streichen!)
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Vor mim Di Hei am Riis choche |
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Mini Chuchi |
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ja, de hani nonig so |
In diesem Holzhaus habe ich gewohnt. Der Wind zog zwischen
den Brettern hindurch und so manche Nacht hab ich furchtbar gefroren. Wasser
hab ich am Brunnen in einem Eimer geholt und diesen auf meinem Kopf – natürlich
nicht annähernd so graziös wie die einheimischen Frauen das handhaben – zurück
zu meinem Haus getragen. Abends, nach einer eiskalten „Chübelituschi“ hab ich
im Kerzenlicht Briefe geschrieben, gelesen gestrickt und gekocht. Dies mit
einem Ding, das sich Fatapera nennt. Eine Art Grill, wobei die Pfanne direkt
auf die Holzkohle gestellt wird. Spätestens um neun fiel ich völlig erschöpft
aber durch und durch zufrieden ins Bett. Dies, weil ich es mir nicht entgehe
lassen wollte alles mitzumachen, was auch die Madagassen machen. Morgens half
ich meinen Nachbarn im Reis zu arbeiten. Zurzeit ist die Reisernte angesagt.
Hast du gewusst, dass es zwei verschiedene Arten von Reisanbau gibt, wobei bei
der einen jedes „Äri“ einzeln mit einer Art Japanmesserklinge abgezwackt wird? Da
mir keiner wirklich erklären konnte, wie man das richtig macht, hab ich halt
rechts und links abgeschaut. Die erste Woche schaffte ich immer nur ein „Äri“ aufs
Mal. Alsbald ich das zweite auf die gleiche Hand nehmen wollte, fiel mir das
erste wieder runter. Gegen Ende des Monates bin ich aber bei stolzen zehn
angelangt. Da sich alle Familien gegenseitig helfen, ist es natürlich ein
Anlass um Klatsch und Tratsch auszutauschen und für mich eine optimale
Gelegenheit um madagassisch zu lernen. Nun, da sie weder Französisch noch
Englisch sprachen, war ich wohl darauf angewiesen. Inzwischen kann ich
kommunizieren und fragen was ich möchte, bei ihrer Antwort muss ich aber immer
noch beachtlich raten.
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Minou am mitsangotra vary |
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wer brucht das Jahr na en kreative Hochziitsstruss? |
Am Mittag gibt’s Picknick auf dem Feld. Natürlich Reis –
viel Reis - mit etwas Bohnen oder
gekochten Blättern. Nach getaner Arbeit wird der Reis in Körben und Säcken auf
Kopf oder Schulter nach Hause getragen. „Wenn die das können, werd ich das wohl
auch noch hinbekommen“, hab ich mir gedacht, mich dabei aber mächtig getäuscht.
Zweimal ist mir der Sack, der nur halb so fest gefüllt war, wie jener der
anderen, runtergefallen und als ich endlich ankam wusste ich nicht mehr wie ich
mich bewegen sollte. Der Kopf tat am nächsten Tag noch weh.
Die andere Reissorte wird im Wasser angepflanzt. Bei dieser
Variante schneiden die Männer mit einer Sichel Bündel ab und legen sie auf den
Boden. Die Frauen sammeln diese Bündel ein, legen sie auf eine aus Blättern
geflochtene Leine, binden sie zusammen und tragen sie auf dem Kopf zum „Depot“.
Am nächsten Tag steht dann das „mively vary“ an. Mit einem Holzstab werden die
Reiskörner aus den Ären geschlagen. Meine Güte das gibt Blasen an den Händen
und Muskelkater für sieben! Zu Hause wird der Reis an der Sonne getrocknet und
bevor er gekocht werden kann, widmet man sich dem „toto vary“. Dieses Wort
besteht, so weit ich weiss, nicht im deutschen Wortschatz – würd es mal als
„entschelfere“ betiteln. Dies funktioniert mit einem überdimensionalen Mörser,
der die Blasen wieder schön aufreisst und den Muskelkater nochmals verdoppelt.
Während ich darauf konzentriert war, den Reis nicht aus der Schale zu schieben
und die extrem aerodynamische Begegnung abzuschauen schlug ich mir das dumme
Ding doch des Öfteren an den Kopf.
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mively vary |
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mitoto vary |
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Mini Apitek hani innerhalb vonere Wuche plünderet. Ob für mich oder die wo da läbäd. Apitek oder Arzt isch vierze Kilometer wiiter eweg - isch denn wiit ohni Auto! (Bepanthene und Bepatine sind mini beste Fründe worde) |
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i blib debii: Schoggibruun halt ;) |
Nun ist mein Körper ein riesen Frack. Bin
übersät mit entzündeten Wunden vom Barfuss gehen und Aufkratzen der
Mückenstiche, dass ich, was das anbelangt, gar nicht so undankbar bin, wieder
in der Zivilisation zu leben. Die Körper der Madagassen sind durchtrainiert und
sich diese Strapazen gewohnt. Sie waren mir gegenüber jedoch immer äusserst
nachsichtig: „Ja, du lernst ja noch…“, hiess es so oft, wenn mir etwas noch
nicht gelang. Sie waren aber auch sonst so zuvorkommend. Luden mich immer in
ihr Haus, vielleicht gerade zum Essen ein oder kamen auch öfters bei mir vorbei
um zu plaudern, zu stricken, den Kater nach dem Ball, wie sie die Landparty
hier nennen, auszuschlafen, sich gegenseitig, die Läuse vom Kopf zu entfernen,
UNO zu spielen oder einfach ein bisschen zu sein. Besonders die Kinder kamen
täglich vorbei. In diesem Dorf leben soooo viele Kinder, das können wir uns gar
nicht vorstellen! Auf die vier Schwestern, die alle eine andere Mutter haben
und eine weitere Frau, deren Mann der Bruder des Vaters der vier Schwestern ist
(ja, es hat mich auch nen Monat und eine ausführliche Zeichnung gekostet, bis
ich das verstanden habe) sind ca 27 Kinder verteilt.
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Am Ball am tanze (oder posiere) |
Ich glaube, das ist
mitunter ein Grund, warum mich die Zeit dort so berührt hat. Ich möchte nichts
generalisieren oder jemandem etwas unterstellen, aber ich kann mir gut
vorstellen, dass einige dieser Kinder das Endprodukt eines Balles waren. Ein
Anlass, wo alle ordentlich betrunken sind und die Geburtenrate neun Monate
später ansteigen lässt. Aber das spielt dort keine Rolle. Die Kinder sind hier
und akzeptiert. Aber es würde sich nie jemand bemitleiden oder beklagen für
eine Aufgabe, die ihm zugeteilt ist. Ob als Mutter, die täglich harte Arbeit
leisten muss um die Kinder zu ernähren, ob als neun Jähriges Kind, das so viel
Verantwortung trägt für seine Geschwister, wie sie das bei uns mit achtzehn
Jahren noch nicht tragen müssen, oder als Baby, das die Mutternähe nur Morgens
und Abends kurz zu spüren bekommt. Wir würden da in der Schweiz eine
Gefährdungsmeldung machen, weil die Kinder verwahrlosen und uns mächtig den
Mund darüber zerreissen, was das für eine schlechte Mutter ist, die die Kinder
alleine zu Hause lässt und sich ihnen nicht mal richtig widmet, wenn sie dann
mal da ist. Hier besteht unter Erwachsenen ein viel grösseres Verständnis
dafür. Helfen tun sie, indem sie ein Kind der Schwester in ihrer eigenen
Familie aufnehmen. Auf meine Frage, warum dass denn der Sohn der Mutter bei der
anderen Mutter lebe, lautete die Antwort: „Tsy maninona“ (Es macht nichts). So
eine grosse Toleranz! So eine grosse Akzeptanz! Ich habe nie jemanden gehört
schlecht über den anderen zu reden! Mai, da könnten wir ganz viel von diesen
Menschen lernen. Wie schimpfen wir doch gerne über andere, wie lassen wir uns
gerne über Fehler unserer Mitmenschen aus, anstelle sie in ihrem Dilemma zu
unterstützen. Ich kann nicht behaupten, die Situation dort wäre besser. Keinem
Kind wünsche ich, so aufwachsen zu müssen. Aber genau das meine ich, wenn ich
sage, diese Menschen sind auf ihre Art und Weise unendlich reich. Sie machen,
was sie können. Sie sind zufrieden mit dem was sie haben. Sie arbeiten fleissig
und gerne auf ihren Reisfeldern. Jahr ein Jahr aus. Sie beklagen sich nie über
Langeweile. Sie freuen sich Wochen im Voraus auf Events wie ein Ball, das Kino
im Nachbarsdorf, welches den Film „Jesus“ in einer Kirche (Anita, da hätte
deine Tante ganz sicher nicht platz gehabt) zeigt und das Bild halb so gross
ist, wie so mancher Plasmabildschirm der bei euch zu Hause steht, das
gemeinsame Kartenspielen, das Taoka gasy (Rum) trinken, was sich die Männer
eigentlich nie entgehen lassen, die Reisernte bis hin zu einem Fussballspiel,
das bis 3h Weg zu Fuss in Anspruch nimmt. (3h Hinweg, 1h Fussballspiel und
wieder 3h zurück – ja da schlafen alle gut in der Nacht). Ja, diese Menschen in
Maromitsinjo sind uns Mailen voraus, was Zufriedenheit und Ausgeglichenheit
anbelangt.
Weil in der Schule während vier meiner fünf Wochen vor Ort
Ferien waren und sie mich im Vorfeld nicht darüber informierten, unterrichtete
ich am Nachmittag auf ihren Wunsch Englisch. Zuerst für die Kinder, die
freiwillig zur Schule kommen wollten und anschliessend für Erwachsene. Einige
hatten über ne Stunde Weg. So lernwillige Schüler hab ich noch selten erlebt.
Ein bisschen ist es schon schade, dass so lange Ferien waren. Die drei Lehrerinnen
hätten eine Weiter – nein, eher eine Ausbildung sehr gut gebrauchen können. Es
tut mir extrem Leid für die Kinder. Was ich gesehen habe, kommen die 250 Kinder
morgens zur Schule, spielen den ganzen Tag und kehren am Nachmittag immer noch
als Analphabeten nach Hause. Es stimmt mich traurig, denn wo sonst, wenn nicht
in der Schule, sollen sie Lesen und Schreiben lernen? Ihre Eltern können es
selber nicht. Aber das scheint dort normal und völlig akzeptiert zu sein.
Ja und nun ist dieser Monat schon wieder vorbei. Es war eine
Erfahrung, die ich niemals vergessen werde. Habe so viel gelernt. So viel
verstanden. So viel bewundert. So viele Menschen kennengelernt. Menschen, die
so arm aussehen aber so ein reiches Herz haben. - Davon wünsch ich uns allen
ein bisschen.
Morgen kommen Kathrin und Lea – ich freu mich wie ein
Honigkuchenpferd (was füre cuuls Wort!) Das Reisen lag irgendwie immer so weit
weg und nun steht es quasi vor der Türe. Mit dem Velo geht es erstmal Richtung
Süden, dann schauen wir weiter. Freu mich so noch mehr über dieses vielfältige
Land zu lernen, Dinge zu verstehen und Menschen kennenzulernen (Das hätte ich vor zwei Monaten ja auch nie behauptet!). Wie es mit meinem Blog weitergeht
weiss ich noch nicht – aber irgendwie halte ich dich schon auf dem Laufenden…
Drück euch ganz lieb!
Grüsse von einer Chrigi mit einem
Herzen wie ein Schmetterling. So glücklich, so zufrieden, so überwältigt, so….
voller Leben!
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